Marxistische Philosophie

Disclaimer: Folgende Einführung in die Marxistische Philosophie entspricht dem gleichnamigen Teil der SDAJ-Grundlagenschulung.

Warum sollten wir uns überhaupt mit Philosophie beschäftigen? – Nun, wenn es keinen göttlichen Weltlenker gibt, so ist für das Böse in dieser Welt, für jedes Übel nicht irgendein Gott verantwortlich, sondern dann sind wir Menschen es selbst. Und dann ist es auch unsere Verantwortung, nach den Ursachen dieses Übels zu forschen, dann liegt es an uns, etwas dagegen zu tun.

Mit den Antworten auf diese grundlegenden Fragen – ob es irgendeinen Weltlenker gibt, woher das Gute und das Böse kommt, ob es einen Sinn des Lebens gibt und worin er besteht, ob wir die Welt verändern können und warum sie so aussieht, wie sie aussieht – beschäftigt sich eine eigene Wissenschaft, die Philosophie. Und je nachdem, welche gesellschaftliche Rolle man innehat, kann die Beantwortung dieser Frage sehr unterschiedlich aussehen: Die Kapitalisten haben kein Interesse an einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft und erklären deshalb, das Ende der Geschichte sei erreicht – oder behaupten, der Mensch sei von Natur aus schlecht, deshalb bringe es auch nichts, etwas zu ändern. Philosophische Fragen sind also unmittelbar für unser Handeln relevant. Schauen wir also mal etwas genauer hin…

Was genau verstehen wir unter Philosophie?

Jede Wissenschaft hat die Aufgabe, einen bestimmten Bereich der Natur oder der Gesellschaft auf seine grundlegenden Eigenschaften, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Die Kenntnisse darüber dienen uns als eine Grundlage für unser praktisches Handeln. Die Erkenntnisse der Physik über die Gesetze der mechanischen Bewegung, der Thermodynamik, der Elektrodynamik, der Optik usw. gestatten uns, Werkzeug, Maschinen, Motoren, Elektrogeräte, optische Geräte usw. zu konstruieren, zu bauen und praktisch anzuwenden. Allgemeiner können wir das so formulieren: Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und technische Wissenschaften setzen uns durch die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft in die Lage, die Naturkräfte und Naturprozesse in den Dienst der Menschen zu stellen, die Natur immer besser zu beherrschen und zu gestalten, ebenso wie wir durch die Erkenntnisse der Gesetzmäßigkeiten in der Gesellschaft die menschliche Gesellschaft verändern und das menschliche Zusammenleben verbessern können.

Wodurch unterscheidet sich die Philosophie von den Einzelwissenschaften?

Die Philosophie richtet ihre Untersuchung auf die allgemeinen Zusammenhänge und Eigenschaften der Welt und aller Erscheinungen, auf die allgemeine Natur des Menschen und seiner Fähigkeiten, auf das Verhältnis des Menschen zur Welt. Sie versucht im Unterschied zu den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit bestimmten Teilbereichen der Welt befassen, die Welt als Ganzes denkend zu erfassen und so eine umfassende Weltanschauung zu entwickeln. Die Griechen wollten beispielsweise schon vor Jahrhunderten durch die Philosophie alles Wissen der Menschen zusammenfassen.

Warum entstand die Philosophie, was waren die Ursachen dafür?

In der Urgesellschaft gab es noch keine Philosophie und keine Wissenschaft. Die unerklärlichen Naturvorgänge wurden dem Wirken höherer Mächte (Götter, Dämonen, Geister etc.) zugeschrieben. Auch die feste Ordnung des gesellschaftlichen Lebens und das Schicksal des einzelnen Menschen wurde auf diese überirdischen Kräfte zurückgeführt. Das Denken der Menschen war noch sehr stark von mythologischen Vorstellungen beherrscht. Marx und Engels stellten fest, dass „die Menschen zunächst vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philosophie usw. treiben können.“ (F. Engels: „Karl Marx“).

Die Philosophie konnte also erst mit der zunehmenden Produktivkraftentwicklung – also der Weiterentwicklung der Werkzeuge und der Arbeitskraft des Menschen – entstehen. Diese machte es möglich, dass Menschen mehr produzieren, als sie selbst unmittelbar zum Leben brauchten, dass sie also ein Mehrprodukt schaffen konnten. Und somit konnte eine Gruppe von Menschen entstehen, die sich das Mehrprodukt anderer Menschen aneignete und sich voll und ganz auf geistige Arbeit konzentrieren konnte: Priester, Wahrsager, Intellektuelle. Mit der Entstehung des Mehrprodukts entstand die Klassengesellschaft – ein Teil der Menschen konnte auf Kosten anderer leben – und das Leben der Menschen änderte sich sehr rasch. Die Ausbeuter, die jeweils Herrschenden, begannen, ihre Herrschaft in Anknüpfung früherer, religiöser Ideen zu rechtfertigen: Die Welt sei notwendig so eingerichtet, dass es Führer und Geführte, Höhere und Niedere, Herren und Unterdrückte gibt. So entstand beispielsweise die Herrschaft sichernde Vorstellung, dass der König ein Sohn Gottes sei. Folglich war ein Angriff auf den König ein Angriff auf Gott, der schlimme Strafen nach sich zog.

Die Priester, Wahrsager und später die Philosophen produzierten – ebenso wie die Ausbeuter – kein Produkt mit ihren eigenen Händen und standen somit an der Seite der Unterdrücker. Die Ideen, die sie verbreiteten, dienten also auch dem Interesse der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse, unter denen sie Vorrechte besaßen. Mit den verschiedenen Herrschaftssystemen veränderten sich auch die verbreiteten Ideen, doch die Funktion der Herrschaftssicherung blieb. Dass mit dem Aufkommen von Wissenschaft und Technik nicht mehr primär religiöse Ansätze zur Erklärung der Welt verbreitet wurden, ermöglichte zwar, sich die Beschaffenheit der Welt auch wissenschaftlich zu erschließen, an der grundlegenden herrschaftssichernden Funktion änderte das jedoch nichts.

Grundfrage der Philosophie, Materialismus, Idealismus

Von da an sind viele verschiedene Richtungen der Philosophie entstanden – von Aristoteles über Descartes, von Locke über Kant, von Feuerbach bis Hegel. Aber gibt es denn nichts, was es erleichtert, sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden? Doch – Engels unterteilte Philosophen nach ihrem Verhältnis zu einer Frage, die er als Grundfrage der Philosophie bezeichnete: „Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein … je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen…, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiedenen Schulen des Materialismus.” (F. Engels: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie”)

Die Grundfrage der Philosophie ist also die folgende: In welchem Verhältnis stehen Natur und Geist, Sein und Bewusstsein zueinander? Was von beidem ist das, woraus sich das andere entwickelt? Was ist ursprünglich, der Geist oder die Natur? Aber warum ist es für die Menschen wichtig, das Verhältnis zwischen Materie – also all dem, was außerhalb unseres Bewusstseins existiert, oder wie Lenin sagt, was objektive Realität ist – und Bewusstsein, zwischen realem Sein und Denken richtig zu bestimmen? Ist das vielleicht nur eine „philosophische Spinnerei”, eine künstlich ausgedachte Frage? Keineswegs! Wenn wir uns mit unserer Umwelt praktisch auseinandersetzen, im Arbeitsprozess auf sie einwirken und sie entsprechend unseren Bedürfnissen verändern, bilden unsere materielle praktische Tätigkeit und die geistige Tätigkeit unseres Bewusstseins eine untrennbare Einheit. Sie sind eng miteinander verflochten. Wenn wir hierbei aber erfolgreich sein und die angestrebten Resultate auch wirklich erreichen wollen, müssen wir es lernen, deutlich zwischen den Gegenständen der materiellen Welt einerseits und unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken über diese Welt andererseits zu unterscheiden.

Und genauso müssen wir zwischen der materiellen praktischen Tätigkeit, welche die Gegenstände tatsächlich verändert, und den gedanklichen Operationen des Bewusstseins unterscheiden, die allein überhaupt nichts verändern können – so verändert sich beispielsweise nichts, wenn wir ein Gebet in unserem Kopf sprechen.

Was verstehen wir unter Materialismus und Idealismus?

Während die Materialisten davon ausgehen, dass die Natur dem Bewusstsein zeitlich vorausgeht, dass sich das Leben, das menschliche Bewusstsein aus der Natur heraus entwickelt hat, sagen die Idealisten, dass am Anfang der Geist gewesen sei, der der Schöpfer der Welt sei. Somit gehören alle Religionen ins Lager der idealistischen Anschauungen. Die Materialisten beantworten die Grundfrage der Philosophie also wie folgt:

1.  Die Materie geht dem Bewusstsein zeitlich voraus.

Die Materie existierte bereits vor dem Bewusstsein und existiert somit auch unabhängig vom Bewusstsein. Das Bewusstsein entstand also erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Materie. Wir gehen davon aus, dass die Materie ewig und unendlich ist. Belegt wird dies beispielsweise durch die physikalischen Erhaltungssätze, die besagen, dass weder Masse noch Energie vernichtet oder aus dem Nichts erschaffen werden können.

Wir wissen weiter aus der Erforschung der Geschichte unserer Erde, dass es auf ihr vor einigen Milliarden Jahren noch kein Leben gab. Folglich konnte es auch keine mit Bewusstsein begabten Lebewesen geben. Erst nach längeren Entwicklungsprozessen entstanden Formen belebter Materie. Aus deren Evolution gingen schließlich auch die ersten Menschen hervor, und mit ihnen entstand erst ein voll ausgebildetes Bewusstsein.

2. Das Bewusstsein ist ein Entwicklungsprodukt der Materie.

Laut den Materialisten ist das Bewusstsein ein Produkt der naturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Es entstehterst auf der Grundlage besonders hoch organisierter Materie, auf Grundlage des menschlichen Gehirns, als eine qualitativ besondere Eigenschaft der Materie. Was ist diese besondere Eigenschaft? Das Bewusstsein hat die Fähigkeit, die materielle Welt – also unsere natürliche und gesellschaftliche Umwelt – in den Gedanken widerzuspiegeln, diese zu abstrahieren und sich schließlich bewusst Ziele zu setzen, um das menschliche Verhalten dementsprechend zu lenken. Friedrich Engels hat den Prozess der Herausbildung des Bewusstseins wie folgt beschrieben: „Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache – das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommenere eines Menschen allmählich übergegangen ist… Die Rückwirkung des Gehirns und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewusstseins, Abstraktions- und Schlussvermögens auf Arbeit und Sprache gab beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung…” (F. Engels, „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen”).

3. Das Bewusstsein ist eine ideelle Widerspieglung der materiellen Welt.

Die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie besagt weiter, dass das Bewusstsein eine ideelle Widerspiegelung der materiellen Welt (= der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt) ist. Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass das Bewusstsein seine Inhalte nicht aus sich selbst heraus erzeugt, sie fließen ihm auch nicht aus irgendwelchen übernatürlichen Quellen zu. Stattdessen können wir uns das Bewusstsein ein bisschen wie einen Spiegel der Umwelt, der gesellschaftlichen Verhältnisse, in der der Mensch sich bewegt, vorstellen. Die Inhalte des Bewusstseins sind eine Widerspieglung, eine Abbildung der materiellen Welt. Es gewinnt sie aus der geistigen Aneignung und Widerspiegelung der materiellen Welt – durch Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe, Aussagen, Theorien usw.

Das Bewusstsein kann aber nicht nur auf einfacher Ebene widerspiegeln, es kann verallgemeinern, abstrahieren, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten entdecken, sie speichern und letztlich – vermittelt durch menschliches Handeln – auch wieder auf Natur und Gesellschaft zurückwirken. Dabei spiegelt das Bewusstsein nicht nur Gegenstände, Prozesse und physikalische Gesetze wider, sondern immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, Interessen und Bedürfnisse, auf deren Grundlage es entsteht und sich entwickelt. Wie wir die Wahrnehmungen unserer Umwelt einordnen, hängt von unserem Weltbild ab, das natürlich ebenfalls von unserer natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung geprägt wird. So ist beispielsweise auch Rassismus gegen migrantische Arbeiter eine Form der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse – und zwar der Konkurrenz im Kapitalismus.

4. Das Bewusstsein dient den Menschen als Mittel der aktiven Umgestaltung.

Die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie besagt schließlich, dass das Bewusstsein den Menschen als Mittel der aktiven Umgestaltung der Welt dient. Widersprechen wir damit nicht der Behauptung, das Bewusstsein sei aus der Materie entstanden und von der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt des Menschen bestimmt? Zwar war die Materie vor dem Bewusstsein da, hat das Bewusstsein aus sich hervorgebracht und ist auch der Inhalt des Bewusstseins. Aber daraus folgt überhaupt nicht, dass das Bewusstsein keine bedeutende Rolle spielen kann.

Das Bewusstsein ist ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebensprozesses. Dass Menschen Werkzeuge benutzen können und Maschinen entwickeln, dass sie sich die Natur also aktiv aneignen, sie verändern und umgestalten, das ist nur möglich, weil das Bewusstsein die Menschen befähigt, diese Welt zu erkennen, sich bewusst Ziele zu setzen, Erfahrungen zu sammeln, zu lernen und ideell entworfene Programme und Projekte materiell zu realisieren.

Erkennbarkeit der Welt

Die Grundfrage der Philosophie hat aber auch noch eine zweite Seite – diese heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken uns Sein. Engels formulierte sie wie folgt: „Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit erzeugen?“ (F. Engels, „Ludwig Feuerbach…”). Es handelt sich also um die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt.

Aber was hat diese Formulierung der Grundfrage nun mit dem Verhältnis von Geist und Natur, von Bewusstsein und Materie zu tun? Nun, die Idealisten setzen an erste Stelle irgendeinen Geist: Entweder, sie halten das Bewusstsein des Menschen für den Schöpfer des außermenschlichen Seins (bspw.: „Alles passiert nur in meinem Kopf, ich kann keine Aussage darüber treffen, was und ob es etwas außerhalb meines Kopfes gibt“) – diese Philosophen bezeichnen wir als subjektive Idealisten. Oder sie nehmen irgendeinen außerweltlichen Geist, einen Gott als Weltschöpfer an – diese Philosophen sind die objektiven Idealisten.

Die subjektiven Idealisten beantworten die Grundfrage der Philosophie mit Nein, weil sie meinen, dass wir nicht wissen, ob unser Kopf die objektive Realität richtig widerspiegelt. Sie halten also alles, was außerhalb vom Bewusstsein besteht, für prinzipiell unerkennbar. Aber auch die objektiven Idealisten leugnen letztlich die Erkennbarkeit der Welt: Sie geben zwar zu, dass es eine objektive Realität außerhalb unseres Bewusstseins gibt, die wir zunächst auch erkennen können. Die Natur, ihre Gesetze, Raum, Zeit und Bewegung sind dann aber doch von diesem ursprünglichen, außerweltlichen Geist geschaffen. Und eine Sache erkennt man wirklich richtig nur dann, wenn man auch ihren Ursprung kennt.

Die objektiven Idealisten sagen aber im nächsten Schritt, dass es eine Erkenntnis dieses ursprünglichen außerweltlichen Geists nicht geben kann, dass dieser Geist unerkennbar ist. Und so verneinen die objektiven Idealisten die Grundfrage schließlich auch.

Anders ist es bei den Materialisten: Sie bejahen die Grundfrage der Philosophie und erkennen eine objektive Realität außerhalb des Bewusstseins, die der Mensch erkennen kann, an und erklären das Bewusstsein als Entwicklungsprodukt der Materie.

Engels antwortet auf die Philosophen, die die Erkenntnis der Welt oder einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten: „Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unseren Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfassbaren ‘Ding an sich’ zu Ende” (F. Engels, „Ludwig Feuerbach…”).

Wahrheit und die Bedeutung der Praxis

Woran messen wir nun unsere Erkenntnisse? Marx bezeichnete die Praxis als das Kriterium, also als Prüfstein der Wahrheit. In der Praxis, d.h. in der gesellschaftlichen, materiell-gegenständlichen Tätigkeit der Menschen, stellt sich heraus, ob unser Abbild der Materie, die abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten und Erkenntnisse wirklich mit der objektiven Realität übereinstimmt, also wahr ist. Wenn eine Erkenntnis bei ihrer Anwendung zu den im Voraus berechneten Ergebnissen führt – wenn wir beispielsweise erfolgreich eine Maschine bauen können – dann zeigt das, dass wir einen etwas über die objektive Realität erkannt haben. Dabei unterscheiden wir relative und absolute Wahrheit. Die Erkenntnis, die wir im Erkenntnisprozess erlangen, ist niemals eine endgültige, abgeschlossene, ewige – oder wie wir sagen, absolute Wahrheit.

So kann die klassische Mechanik in der Physik einen Teil der objektiven Realität beschreiben, aber erst mit der Relativitätstheorie können Teilchen bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit erfolgreich beschrieben werden. Die klassische Mechanik ist also eine relative Wahrheit. Die Relativitätstheorie bringt uns etwas näher an die absolute Wahrheit, aber auch sie hat ihre Grenzen – und ist selbst nur relative Wahrheit. Jede relative Wahrheit ist im Erkenntnisprozess also ein Schritt zur absoluten Wahrheit, so kommen wir der absoluten Wahrheit immer näher.

Den Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, in dem der Mensch auf die Natur einwirkt und sie verändert, in der er das Abbild der objektiven Realität überprüfen kann, wird von Marx als Arbeit bezeichnet: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.“ (K. Marx „Das Kapital, Band I“)

Dialektik – Grundgesetze und Triebkräfte der Entwicklung

Die Welt, in der wir leben, entwickelt und verändert sich ständig: Flüsse verändern ihren Lauf, Gebirge und Meere ihre Form, die Erde ist erst vor wenigen Milliarden Jahren entstanden und selbst die Sterne verändern sich. Auf gesellschaftlicher Ebene geht diese Veränderung sogar noch viel rasanter vonstatten: Wo vor Jahrzehnten noch britische, portugiesische oder französische Kolonien waren, sind heute freie Nationalstaaten und während der Kapitalismus bis 1917 noch die ganze Welt beherrschte hat die russische Revolution damit für rund 70 Jahre Schluss gemacht.

Engels formulierte zutreffend: „Bewegung ist die Daseinsweise der Materie“, Materie und Bewegung sind also untrennbar miteinander verbunden. Die Art und Weise wie und die Richtung in die die Bewegung, die Entwicklung der Materie verläuft können wir mithilfe der Dialektik untersuchen und beschreiben. Die materialistische Dialektik ist „die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“ (Engels, „AntiDühring”).

Die materialistische Dialektik fasst die Entwicklung als Selbstbewegung der Materie auf, deren Quelle und Triebkraft in der Materie selbst, in ihren inneren Widersprüchen liegt. Die ganze materielle Welt bildet ein System qualitativ verschiedener Entwicklungsstufen, die entwicklungsgeschichtlich miteinander zusammenhängen.

Die großen Entwicklungsstufen – 1. anorganische Materie, 2. organische Materie, 3. menschliche Gesellschaft – gehen eine aus der anderen hervor. Jede dieser großen Entwicklungsstufen der Materie weist wiederum in sich zahlreiche Entwicklungsstufen auf. Alle Entwicklungsprozesse verlaufen jeweils auf eine Art und Weise, die durch die Beschaffenheit und die Gesetzmäßigkeiten des betreffenden Systems bedingt ist. Zugleich besitzen sie alle aber auch bestimmte gemeinsame Züge. Diese kommen in den allgemeinen Entwicklungsgesetzen zum Ausdruck, die die Dialektik untersucht und formuliert. Die wichtigsten dieser Gesetzmäßigkeiten sind die drei Grundgesetze der Dialektik:

1. Umschlagen von Quantität in Qualität

Das erste Grundgesetz der Dialektik, das Gesetz vom Umschlagen der Quantität in Qualität, beantwortet die Frage, wie sich die Entwicklung vollzieht. Wenn wir einen Entwicklungsvorgang untersuchen, so sehen wir zunächst den Vorgang der kleinen Veränderungen, der Zunahme und Abnahme. Diese Prozesse bezeichnen wir als quantitative Veränderungen.

Dinge unterscheiden sich aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Dabei hängen Quantität und Qualität zusammen: Solange man Wasser bei normalem Luftdruck zwischen 0 und 100 Grad Celsius erwärmt oder abkühlt, bleibt sein flüssiger Zustand, also seine Qualität, davon unbeeinflusst. Erhitzt man es jedoch über 100 Grad hinaus, wird es gasförmig (Damp), kühlt man es unter 0 Grad, so wird es fest (Eis). In der Bewegung der Materie erfolgen ständig Veränderungen quantitativer Art. Diese quantitativen Veränderungen vollziehen sich jedoch im Rahmen, in den Grenzen der gegebenen Qualität.

Erst an einem ganz bestimmten Punkt führen die kontinuierlichen quantitativen Veränderungen zu einem plötzlichen Übergang in eine neue Qualität. Der weitere Entwicklungsprozess verläuft auf der Grundlage der neuen Qualität zunächst wieder in Form quantitativer Veränderungen, bis ein erneuter Umschlag in eine neue Qualität erfolgt, wir sagen, die alte Qualität wird „negiert“ (verneint). Den Prozess des Umschlagens von Quantität in Qualität können wir beispielsweise auch in der Entwicklung einer Pflanze beobachten: Zuerst wächst und schwillt die Blütenknospe, bleibt aber – größer und größer werdend – immer noch eine Knospe. Diese Veränderungen werden schließlich von solchen abgelöst, die einen neuen Entwicklungsabschnitt einleiten: Aus der Knospe geht die Blüte hervor, die Blüte öffnet sich.

2. Einheit und Kampf der Gegensätze

Das Gesetz von der Einheit und dem „Kampf” der Gegensätze erklärt die Quelle, die Ursachen und die Triebkräfte der Entwicklung, sie beantwortet also die Frage, warum sich etwas entwickelt. In jedem natürlichen und gesellschaftlichen System befinden sich bestimmte Elemente, Kräfte, Tendenzen, Prozesse usw. in einer aktiven Wechselwirkung. So haben wir im Atom positive und negative elektrische Ladung, in der Pflanze gehen gleichzeitig Auf- und Abbauprozesse vor sich, in den Sternen wirkt der Anziehungskraft der Strahlungsdruck entgegen. Diese verschiedenen Prozesse bilden im Rahmen des Systems eine Einheit, bedingen einander, aber schließen einander zugleich aus, wirken in entgegengesetzter Richtung, das heißt, sie liegen sozusagen im „Kampf” miteinander.

Dieser „Kampf” der Gegensätze, die sich im Verhältnis der Einheit und des gleichzeitigen „Kampfes” befinden, bilden einen dialektischen Widerspruch. Alle materiellen Systeme und Prozesse sind durch solche dialektischen Widersprüche charakterisiert. Und der „Kampf“ der Gegensätze in den Dingen und Erscheinungen der materiellen Welt führt nach einer bestimmten Zeit zur Zerstörung der bestehenden Einheit und damit auch der bestehenden Qualität der Dinge. Die bisherige Qualität wird vernichtet und geht in eine andere über. In dieser neuen Qualität entwickeln sich neue Widersprüche.

Das gilt auch auf gesellschaftlicher Ebene: Es gibt den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, auf den später noch genauer eingegangen wird. In allen Gesellschaftsordnungen, die auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruht, ist die Gesellschaft in Klassen gespalten, deren Interessen gegeneinander gerichtet sind und die einander bekämpfen. Marx und Engels fassen im Manifest der Kommunistischen Partei wie folgt zusammen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen“. Diese Kämpfe endeten entweder in der revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft oder im gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. Lenin nannte die Lehre vom Widerspruch den „Kern der Dialektik“ („Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik”).

3. Negation der Negation

Das dritte Grundgesetz der Dialektik, die Negation der Negation, beantwortet die Frage danach, wohin die Entwicklung geht. Unter der Negation verstehen wir die Ablösung einer alten Qualität durch eine neue. Wenn aus dem Samenkorn eine Knospe, aus der Knospe eine Blüte hervorgeht, so wird zunächst das Samenkorn, dann die Knospe negiert. Der Entwicklungsprozess ist also eine Folge von Negationen ohne Ende. Dabei wird die alte Qualität aber nicht einfach vernichtet, sie verschwindet nicht spurlos. Vielmehr wird ibei dieser Negation das bisherige positive Entwicklungsresultat aufbewahrt, es wird in die neue Qualität übernommen und dient hier als Grundlage der weiteren Entwicklung. Nachdem eine neue Qualität entstanden ist, vollzieht sich die weitere Entwicklung in ihrem Rahmen. Wenn die quantitativen Veränderungen ein bestimmtes Maß erreicht haben, erfolgt erneut der Umschlag in eine neue Qualität, das heißt, die frühere Qualität wird ebenfalls negiert – es kommt zur Negation der Negation. In nicht wenigen Fällen bewirkt das Gesetz der Negation der Negation eine bestimmte, gleichsam spiralförmige Höherentwicklung. Gerstenkorn – Negation des Gerstenkorns durch die Gerstenpflanze, Negation dieser Negation durch die Gerstenähre: „Rückkehr“ zum Ausgangspunkt der Gerste, aber auf höherer Ebene, denn es sind nun zwei, drei, Dutzend Gerstenkörner entstanden. Auf gesellschaftlicher Ebene ist die sozialistische Gesellschaftsordnung die Negation der kapitalistischen Gesellschaft. Beim Übergang wird aber nicht alles negiert, was im Kapitalismus geschaffen wurde – beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft wird auch das benutzt, was der Kapitalismus zur allgemeinen Höherentwicklung der Kultur beigetragen hat.

Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft

Wenn wir einen Blick auf die Geschichte werfen, so sehen wir zunächst eine verwirrende Vielfalt von Völkern, Staaten und Persönlichkeiten, verstrickt in eine rastlose Aufeinanderfolge von Ereignissen, Bewegung, Veränderung, Absterben der einen Staaten oder Klassen, Aufblühen der anderen. Doch wenn wir etwas näher hinschauen, stellen wir fest: Wie in der Natur wirken auch in der Gesellschaft Gesetzmäßigkeiten. In der Natur ist das auch schnell einzusehen. Im Unterschied zur Natur gibt es in der Gesellschaft aber keine blindwirkenden, bewusstlosen Kräfte, stattdessen setzen sich die Gesetzmäßigkeiten hier im Handeln der Menschen durch. Mit der Erforschung dieser Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Gesellschaft beschäftigt sich der historische Materialismus. Dass es diese Gesetze gibt, heißt aber noch lange nicht, dass wir die Gesellschaft nicht verändern können: Im Gegenteil, erst dadurch, dass wir diese Gesetze erkennen und uns mit ihnen auseinandersetzen können wir sie bewusst anwenden, um unsere Ziele zu erreichen.

Untersuchen wir nun also die menschliche Gesellschaft. Als Materialisten sind wir der Auffassung, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Was bedeutet das? Zu Beginn haben des Kapitels haben wir bereits festgestellt: Damit sich Menschen überhaupt erst mit Fragen der Philosophie beschäftigen können, müssen sie zuallererst ihr Essen, Trinken, ihre Kleidung, Wohnung und noch einiges andere abgesichert haben. Zur Absicherung dieser Bedürfnisse, ihrer Reproduktion arbeiten die Menschen und verwenden dazu Werkzeuge und Maschinen – die Produktionsinstrumente. Die Menschen mit ihren Produktionserfahrungen und den Produktionsinstrumenten nennen wir Produktivkräfte. Natürlich waren die Produktionsinstrumente einmal ganz roh und einfach und haben sich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Mit ihrer Entwicklung veränderte sich die Arbeit, die menschliche Arbeitserfahrung wuchs. In der Produktion wirken die Menschen aber nicht nur auf die Natur, sondern auch aufeinander: „Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur statt“ (K. Marx: „Lohnarbeit und Kapital“).

Diese Verhältnisse bezeichnen wir als Produktionsverhältnisse. Das können Beziehungen der Zusammenarbeit, des Güteraustausches, des Handels, aber auch – auf Grundlage des privaten Eigentums an Produktionsmitteln – Beziehungen der Ausbeutung von Eigentumslosen sein. Um die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu verstehen, müssen wir uns die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die zusammen die Produktionsweise bilden, näher anschauen. Marx und Engels halten die Produktionsweise oder: die ökonomische Basis für das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.“ (Marx, „Zur Kritik der politischen Ökonomie” – Vorwort).

Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen

Dabei ist die Veränderung der Produktivkräfte der Motor der Entwicklung: Mit immer mehr Wissen und Arbeitserfahrung, besseren Maschinen, können die Menschen viel mehr in kürzerer Zeit produzieren. Wenn sich die Produktivkräfte ändern, müssen sich früher oder später aber auch die Produktionsverhältnisse und damit die Eigentumsverhältnisse, die nur ein juristischer Ausdruck der Produktionsverhältnisse sind, anpassen: Erst mit der Entstehung der Arbeitsteilung, des gesellschaftlichen Mehrprodukts wurde der Austausch zwischen den Menschen möglich und nötig. Und mit den modernen Produktionsinstrumenten muss man auf andere Weise arbeiten als mit dem primitiven Faustkeil.

So konnte die Industrialisierung nicht unter den Bedingungen des Feudalismus vollzogen werden – erst mit der Entstehung der Fabriken, Produktionsstätten im industriellen Maßstab, war genug Kapital in einer Hand vorhanden, waren genug Arbeiter am gleichen Produktionsort, dass der Kauf von großen Maschinen möglich wurde. Heute sind die modernen wissenschaftlich-technischen Mittel (z.B. der modernen Chemie) so gewaltig geworden, dass man sie nicht mehr der privaten Verfügungsgewalt, also den Kapitalisten, überlassen darf – die Gefahr für die Menschheit wäre viel zu groß. Notwendig ist, dass diese neuen Mittel und Möglichkeiten der gesamtgesellschaftlichen Verfügung und Kontrolle übergeben werden. Die Produktionsverhältnisse werden zu Fesseln der Produktivkräfte und müssen umgewälzt werden – wir sprechen vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Ökonomische Basis und Überbau

Wie gehen solche Umwälzungen nun vor sich? „In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen (= ökonomische Basis) und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten (= Überbau). Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dieses Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“ (K. Marx: „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, Vorwort). Die Umwälzungen werden also auf der Ebene des Überbaus ausgefochten – um die dahinterstehenden Ursachen zu verstehen, müssen wir uns aber die ökonomische Basis genauer anschauen.

Eine Revolution kann also nicht nach ihren Idealen beurteilt werden, sondern nur auf Grundlage der Produktionsweise. Und so bestätigt auch Engels: „Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen, nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen in der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche” (Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft”)

Die Art und Weise der Herstellung und Handhabung der Produktionsinstrumente in der Urgesellschaft setzte noch keine differenzierte Arbeitsteilung, keine vielfach gegliederte gesellschaftliche Produktion voraus. Sie zwang den Menschen jedoch, um des Überlebens Willen in Horden zusammenzuleben. Größeres Wild konnte mit den primitiven Jagdwaffen nur durch das Zusammenwirken einer Gruppe von Menschen erlegt werden. Die Höherentwicklung der Produktivkräfte, die Entwicklung einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die allmähliche Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit (Mehrprodukt) führten dann zu einer immer differenzierteren gesellschaftlichen Gliederung. Diese fand in einer ungleichen Verteilung der Güter zwischen den Menschen, in der Herausbildung des Privateigentums, in der Entstehung von Abhängigkeiten zwischen Menschen, in der Unterordnung der einen unter die anderen und schließlich in der Spaltung der Gesellschaft in Klassen ihren Ausdruck.

Die Sklaverei war ein notwendiges gesellschaftliches Produktionsverhältnis. Die Inangriffnahme großer Produktionsvorhaben wie Bauwerke oder Bewässerungsanlagen lediglich mit Handarbeit und bei völligem Desinteresse der unmittelbaren Produzenten (da diesen aus dem Mehrprodukt kein Nutzen erwuchs) setzte die Kooperation großer Massen von Arbeitern voraus, die durch schärfsten Zwang zusammengehalten wurden. Wieder andere Formen gegenseitiger gesellschaftlicher Beziehungen brachte die Art und Weise der bäuerlichen Arbeit im Mittelalter hervor: das Eigentum des Feudalherrn an Grund und Boden und dessen Bewirtschaftung durch Bauern, die den größten Teil des erzeugten Mehrproduktes an die Feudalherren abzuliefern hatten. Vielfältig sind die Formen, in denen sich die kapitalistische Lohnarbeit, die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie, historisch herausbildete und in Erscheinung trat. Sie beruht einerseits auf dem Eigentum des Kapitalisten an den Produktionsmitteln und andererseits auf den Produzenten, welche lediglich über die eigene Arbeitskraft verfügen. Auch dieses Produktionsverhältnis entspricht einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Er findet insbesondere in der großen Industrie Ausdruck und ist durch ein vielfach differenziertes System gesellschaftlicher Arbeitsteilungen, durch weit vorangetriebene Spezialisierung der menschlichen Arbeit und durch die Zusammenarbeit großer Gruppen von Arbeitern im Maßstab großer Unternehmen gekennzeichnet.

Marx resümiert schließlich: “Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer beobachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind… Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht in dem Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab” (Marx, „Zur Kritik der politischen Ökonomie”, Vorwort).